Schon beim Öffnen der Tür umweht uns der intensive Duft von Kirschen. Es ist kein plumper, süßer Geruch aus dem Chemiebaukasten, wie man ihn von Kaugummi oder Haribo kennt, der einen direkt umhaut. Vielmehr umspielt eine filigrane Fruchtigkeit unsere Nasen, die auch Platz lässt für Zwischentöne. Und als ich tief konzentriert einatme – rieche ich da nicht auch etwas Nussiges? “Ja, genau”, sagt Hans. “Wir brennen bei unseren Kirschen die Kerne mit. Daher kommt das Nussaroma.”
Hans, das ist Hans Reisetbauer. Wer sich für Brände und Obstler interessiert, dürfte bei diesem Namen aufhorchen: Man kann ohne Übertreibung sagen, dass Hans, 54 Jahre, in der Welt der Spirituosen eine Ikone ist. Denn kaum jemand versteht es besser, Früchten und Gemüse, Knollen und Blüten ihre Essenzen zu entziehen und diese in Alkohol zu bannen. Dementsprechend zählen seine Edelbrände zu den besten ihrer Art. Man findet sie in nahezu allen Sterneküchen und Spitzengastronomien. Er macht aber auch exzellenten Rum, Wodka und Gin. Vor Kurzem brachte er sogar eine neue Sorte heraus, doch dazu später mehr.
Erstmals persönlichen Kontakt hatte ich mit Hans Reisetbauer im Rahmen des 4X50-Rums, den wir euch bereits ausführlich in unserem Blog vorgestellt haben. Wir führten damals ein fast einstündiges Gespräch über die Herstellung und Vermarktung moderner Rums. Am Ende blieb trotzdem noch vieles offen, sodass mir Hans beim Verabschieden anbot, ihn doch im Sommer auf seinem Gut in Oberösterreich zu besuchen. Wie hätte ich ein solches Angebot nicht annehmen können?
Und nun stehen wir hier zu dritt vor riesigen, kupferfarbenen Brennapparaturen, inhalieren die Kirsch-Amaretto-Noten in der Luft und in diesem kurzen Moment fühlt sich einfach alles richtig an.
Teil 1: Fahrt zur Roten Williamsbirne
Doch bis dahin war es ein weiter Weg. Bis Axberg bei Linz sind es 616 Kilometer. Wir fuhren mit dem Zug von Halle nach München, von dort über Salzburg nach Linz, und nach einem unfreiwilligen Stopp des örtlichen Nahverkehrs erreichten wir mit reichlich Verspätung (sorry nochmal dafür, Hans) in einem viel zu teuren Taxi den Hof. Schon vom Eingang aus sieht man Obstbäume, so weit man schaut, und wir bekommen direkt eine Vorahnung, dass dieser Besuch anders werden wird als unsere Besuche bei anderen Destillerien.
Hans ist ein Mann, der gerne redet und erklärt, aber noch lieber macht, und deshalb fackelt er auch nicht lange und lädt uns nach einem kurzen Plausch beim Mittagessen direkt auf eine Spritztour durch die Felder ein. Wir nehmen in einem geländefähigen Laster Platz – Hendrik und ich auf der Rückbank, Hans am Lenkrad – und fahren, ach was, rumpeln im Vollspeed über hügelige Feldwege. Knapp 17.000 Birnbäume wachsen rund um den Hof, dazu kommen noch einmal 7.000 Apfelbäume. Minutenlang brettern wir um die Kurven, Baumreihe um Baumreihe zieht neben uns vorbei. In wenigen Wochen beginnt die Erntezeit, die sich bis Mitte Oktober zieht. “Am Ende ernten wir 250 bis 300 Tonnen Birnen”, erklärt Hans.
Was daraus entsteht, weiß ich bereits: Hans Reisetbauers Brand der Roten Williamsbirne ist – und ich verwende diesen Begriff selten – legendär. Im Kulinarikmagazin Falstaff erzielt sein Birnenbrand je nach Jahrgang zwischen 98 bis 100 von 100 möglichen Punkten. Die Tester sind voll des Lobes: Sie feiern das Aroma der vollreifen Birnenfrucht, die “feingliedrige Fruchtsüße” am Gaumen, die Würze und die komplexe Struktur des Brandes. “Beste Balance im Abgang”, heißt es in einer Kritik. Mehr geht im Grunde nicht.
Es ist daher keine Überraschung, dass der erste Zwischenstopp uns zu eben jenen Birnbäumen führt. Sie sind gewissermaßen das Fundament für Hans’ Erfolg. Ein Erfolg, der lange Zeit nicht absehbar war. Denn als Hans die Bäume im Jahr 2001 pflanzte, erklärten ihn viele für verrückt. Die Temperaturen waren zu kalt, die roten Williamsbirnen wurden in den ersten Jahren nicht vollreif. Doch der Klimawandel tat sein Übriges. Heute wachsen hier Birnen in exzellenter Qualität, nach der sich andere Hersteller die Finger lecken. “Doch wir geben keine einzige Birne mehr her”, sagt Hans. Denn mit jeder einzelnen von ihnen hat er noch Pläne.
An einem Baum macht er Halt. Vorsichtig nimmt Hans eine rote Williamsbirne in die Hand und streicht über ihre tiefrote Oberfläche. “Sie sind rundherum rot, nicht ein Fleckchen grün. Wunderschön.” Wenn man ihm zuhört, spürt man seine tiefe Verbundenheit zur Natur. Neben den Birnbäumen sprießt das Gras, weil Hans seit 2007 auf den Einsatz von Unkrautvernichtern und Chemikalien verzichtet. “Davon muss man jedes Jahr die doppelte Menge verwenden, um das gleiche Ergebnis zu erzielen. Mir war klar, dass das auf Dauer nicht funktionieren kann. Das ist nicht gut für mich, meine Mitarbeiter und meine Kinder. Dann haben wir einfach einen Schlussstrich gezogen. Seitdem leben wir einen viel bewussteren Umgang mit der Natur.”
Er hörte beim Grünstreifen nicht auf. Die Energie wird über Solarpanele auf den Dächern gewonnen, an guten Tagen arbeitet die Brennerei energieautark. Das Wasser aus dem Brennvorgang wird wieder in die Heizung eingespeist. “Es geht darum, alles auszunutzen. Jeden Stein umzudrehen, an jeder Ecke anzusetzen.” Nachhaltigkeit ist für viele Unternehmer ein Modewort, um den eigenen Produkten einen grünen Anstrich zu verpassen. Je länger wir uns hier umschauen, desto klarer wird uns: Hier wird sie aus Überzeugung gelebt. Nichts hier fühlt sich nach Industrie an.
Doch das war nicht immer so. Als Hans 1994 den Hof von seinem Vater übernimmt, ging es einzig und allein um Masse. “Ich bin eigentlich als Landwirt auf die Welt gekommen. Ackerbau hat mich aber nie so sehr interessiert. Da ging es immer nur darum, wie viel Tonnen wir abliefern. Die Frage der Qualität hat sich nie gestellt. In meinem Betrieb ist mir die Menge völlig egal. Es geht nur noch um Qualität.”
“Hauptsache viele Kilos ist nicht mehr wichtig. Je besser die Qualität der Zutaten, desto besser ist am Ende auch mein Brand.” Hans’ größtes Pfund ist seine Unabhängigkeit. “Ich ernte an dem Tag, an dem ich es möchte. Ich muss nicht auf jemanden warten, der womöglich erst in einigen Tagen die Ware liefert. Ich kann alles selbst bestimmen.” Vom Acker direkt in die Destille – ein unschätzbarer Vorteil.
Wir überlassen die Birnbäume wieder den Schmetterlingen und Bienen und machen einen kurzen Abstecher zur Elsbeere, aus der Hans’ seinen hochpreisigen Brand brennt. Sie ist trocken, das Wetter im Frühjahr hat nicht mitgespielt, und so wird es auch dieses Jahr keine Ernte geben. Wir sehen weite Sojafelder, am Horizont liegen entwurzelte Baumgerippe. Ein Virus hat seine Zwetschgenbäume dahingerafft. Ein Rückschlag, doch davon lässt sich hier niemand unterkriegen. Man fängt einfach wieder von vorne an.
Rund 300 Tage im Jahr kümmert sich Hans gemeinsam mit seinem 14-köpfigen Team so nachhaltig wie nur möglich um die Felder und Bäume. Statt Chemikalien zu spritzen wird etwa die Gerste mehrfach im Jahr gestriegelt. Das sorgt für weniger Unkraut und ein besseres Wachstum. Die Gerste wird nicht nur für den hauseigenen Whisky genutzt, sondern ist auch die Basis der Privatbrauerei Trumer – laut Hans “das beste Bier Österreichs”. Danach müssen wir bei unserem nächsten Österreich-Trip Ausschau halten.
Teil 2: Im Herzen der Brennerei
Nach der Ernte werden alle Zutaten auf den Hof gebracht, gewaschen und eingemaischt. Nun beginnt die sprichwörtliche heiße Phase. Wir gehen durch eine Tür in den eingangs erwähnten Raum, in dem es nach Kirschen und Nüssen duftet. Hier stehen in einer Reihe riesige, silberne Stahlkolosse, die je nach Größe 5.500 bis 11.000 Liter Volumen fassen. In einem Gärtank brodelt leise die Marillen-Maische vor sich hin.
“Die Destillation ist mein wichtigster Baustein”, erklärt Hans. Deshalb hat er sich vor zwei Jahren eine neue Anlage zugelegt, die er gemeinsam mit dem hochspezialisierten Hersteller Carl aus Süddeutschland entwickelte. All seine Erfahrungen aus den vergangenen zwei Jahrzehnten sind in diese Entwicklung eingeflossen.
Um zu überprüfen, ob alles seine Richtigkeit hat, muss Hans nicht mehr auf die Anlage klettern – es genügt ein Blick aufs Smartphone. Alle Daten werden in Echtzeit in einer App bereitgestellt, theoretisch könnte man so sogar im Ausland über das Smartphone eingreifen. Mit der Technik sind Hans und sein Brennmeister in der Lage, den Gärprozess zu 100 Prozent kontrollieren zu können. Denn sobald das Obst gewaschen ist, werden keine Fehler mehr verziehen.
Nur wenige Meter weiter thronen die kupferfarbenen Brennkessel – Hans nennt sie seine “Heiligtümer”. Sie sind sein wichtigstes Arbeitsmittel. Und technisch das Beste, was der Markt zu bieten hat: Der Druck kann auf 0,01 Bar und die Temperatur auf 0,05 Grad Celsius genau justiert werden. So kann während des gesamten Brennprozesses die Temperatur exakt vorgegeben werden und die Aromafeinheiten eines jeden Brandes perfekt herausgearbeitet werden.
Hans bräuchte eine solch teure Anlage nicht, um einen sehr guten Brand zu produzieren. Doch sehr gut ist ihm nicht genug. Er will das letzte Quäntchen Qualität aus seinen Rohstoffen herausholen – und nichts dem Zufall überlassen: “Ich will irgendwann der beste Schnapsbrenner der Welt sein”, sagt Hans. “Das kann ich nicht erreichen, mir ist schon klar, dass der Weg das Ziel ist. Aber ich kann sagen: Ich arbeite jeden Tag daran. Am Obst, an der Gärung, an der Brennerei. Es gibt keinen einzigen Tag, an dem wir nicht irgendetwas lernen.”
Eine Destille, die sich per Smartphone steuern lässt. Eine Anlage, die automatisch Temperatur und Druck reguliert. Ist es nicht eine Frage der Zeit, bis eine Künstliche Intelligenz den Job übernimmt? Hans winkt ab. “Die Software kann uns bei handwerklichen Dingen unterstützen, etwa dem Waschen oder dem Halten der Temperatur. Aber sie kann den menschlichen Geschmack nicht ersetzen. Jede Frucht ist anders, jeden Tag. Hier kommt es auf unsere Erfahrung an.” Ein erfahrener Brennmeister beißt in eine Birne und weiß instinktiv, ob sie überreif und zu süß oder genau auf den Punkt ist, und kann dementsprechend handeln. Eine Maschine erledigt diesen Job nicht auf dem gleichen Level. Obstler brennen, das ist und bleibt Handwerk.
Und eine Geduldsprobe. Hier werden nicht Tausende von Litern im Akkord durchgepeitscht, sondern alle Destillate bekommen ausreichend Zeit, um sich zu enthalten. “Wir destillieren immer langsamer und langsamer. Im Gegensatz zu allen anderen Brennern gehen wir auf jede Frucht bis auf das letzte Detail ein.”
Der Prozess ist aufwendig, kompliziert und rein mengentechnisch nicht effizient. Er könnte an einigen Stellen Abstriche machen, um die Ausbeute signifikant zu erhöhen. Aber das will er nicht. Es ist wie beim Ackerbau: Die Menge interessiert ihn nicht, nur die Qualität. “Für einen Industrieschnaps werden 30 Euro je Liter verlangt, bei mir sind es mehr als 100. Doch Aldo Gucci hat einmal gesagt: An die Qualität erinnert man sich noch, wenn der Preis längst vergessen ist. Ich bin überzeugt: Man darf nichts halbherzig machen. Man macht es entweder ganz oder gar nicht – und wenn man es macht, dann bis zum bitteren Ende.”
Ganz oder gar nicht – diese Einstellung ist auch der Grund, warum es einige Produkte nicht mit dem Reiserbauer-Logo auf der Flasche gibt. Einen Preiselbeerbrand etwa sucht man vergebens, “die Gärung hat nie so funktioniert, wie ich es wollte. Dabei haben wir viele Dinge probiert.” In einem anderen Jahr versuchte er sich an einem Melonenbrand. 10 Tonnen Melonen wurden ausgeschält, “aber das Ergebnis brauchte kein Mensch”. Am Ende verkaufte er nicht einen einzigen Tropfen. “Ich habe nie ein Produkt verkauft, von dem ich nicht 100 Prozent sicher war, dass es perfekt ist.”
Teil 3: Tief im Fasskeller
Die Produkte, von denen Hans überzeugt ist und die noch eine Reifung benötigen, landen in seinem Fasskeller. Als wir diesen Raum betreten, fühlen wir uns ein wenig wie kleine Kinder, die im Disneyland-Schloss mit dem goldenen Schlüssel die Tür öffnen dürfen, die sonst nicht für jeden zugänglich ist. Hier lagern überall Fässer, viele von Albert Gesellmann, und nur die Kreidenotizen darauf verraten, welche Schätze sich in ihnen verbergen.
Wein Rot
Whisky 2017
Whisky 2018
Whisky 2019
Gin
Williams 2019
Apfel 2019, 363 kg, 84%
Orange
Orange? Kennen wir bislang nur als Geist. ”Mit so einem Blödsinn wie Geisten fangen wir hier gar nicht an”, grätscht Hans direkt dazwischen. “Wir haben in einem Jahr 24.000 Kilogramm Orangen bekommen. Ausgereifte Orangen, wie wir sie hier gar nicht kennen. Drei Tage lang haben wir sie ausgequetscht. Der Brand hat schlussendlich 58 Prozent aus dem Fass.” Die Fässer mit “Rum” ziehen unsere Blicke auf sich. Hier lagert ein Teil des Rums, den Hans für den 4X50 verwendet. Auch dazu erwartet uns später noch einmal eine Überraschung.
Zu jedem Fass, welches wir entdecken, hat Hans aus dem Stegreif die Hintergründe parat. Er weiß, von wem er die Früchte erhalten hat und ob der Sommer gut oder schlecht war. Ein weiteres Fass macht uns neugierig. “1000 Rosen” steht darauf. Es ist ein Weinbrand aus dem 1000 Rosen Wein des Winzers Bernhard Ott. “Den Wein haben wir 2006 bekommen und destilliert. Der Weinbrand ist 15 Jahre alt.” Hans klettert das Regal empor, gibt uns direkt eine Kostprobe. Er ist blumig und floral ohne Ende, dazu schmecken wir Vanille und Pfeffernoten. Und wow, dieser Brand baut sich im Mund auf und hallt unglaublich lange nach. Sehr spannend.
Diese Fässer zeigen: Nicht alles, was Hans brennt, wird auch auf dem Hof angebaut. Sein Portfolio erstreckt sich mittlerweile über zwei Dutzend Brände. Er ist deshalb stets auf der Suche nach perfekten Produkten. Die Karotten für seinen Brand (von dem ich mir im Anschluss direkt eine Flasche gekauft habe*) kommen von Christian Stadler, dem Gründer der ersten österreichischen Bio-Lebensmittelmarke Morgentau. Er ist ein alter Schulfreund von Hans. Seit 1997 kauft er durchgängig bei ihm. Andere Karotten hat er sich laut eigener Aussage seitdem nicht einmal angesehen, so überzeugt ist er von deren Qualität. 40 Kilogramm Karotten benötigt er pro Liter Brand. Die Marillen für seinen berühmten Marillenbrand* bezieht Hans von seinem guten Freund und Winzer Bernhard Ott, mit dem er bereits seit 1999 zusammenarbeitet.
Teil 4: Tasting mit Hans
Die mehrstündige Tour endet in der Küche, in der traditionell das Mittagessen für die Belegschaft zubereitet wird. Nun erwartet uns eine Überraschung, mit der wir nicht gerechnet haben: Hans gibt uns drei Abfüllungen des 4X50 Basis-Rums, die am selben Tag destilliert, abgefüllt, jedoch in drei Fässern mit unterschiedlichem Toasting gelagert wurden. So können wir direkt den Einfluss des Fasses herausschmecken. Schon in unserer Review des 4X50-Rums schrieb Hendrik damals, er würde zu gerne wissen, wie dieser Rum in Fassstärke schmeckt – nun gibt es die Gelegenheit. Und wow, der Rum schmeckt uns so kräftig noch besser als in der Trinkstärken-Variante mit 40,5 %vol.
Als nächstes stellt Hans eben jenen Orangenbrand auf den Tisch, den wir im Fasskeller erspäht haben. “2012 gebrannt”, erklärt er zur Einführung. Der Brand hat ein schönes, reines Orangenaroma mit dezenter Vanillenote. Obwohl mehr als die Hälfte der Orangen die Schalen waren, ist der Brand kaum bitter. Der Alkohol ist trotz 48%vol kaum wahrnehmbar. Ein außergewöhnlicher Brand, bei dem wir erst später im Hotel feststellen, dass er 185 Euro je 0,7 Liter kostet. Doch wer das Besondere sucht, wird hier fündig.
Danach verkosten wir den Karottenbrand. Die Flasche sei ein Bestseller in den Vereinigten Staaten, erklärt Hans. Viele Bartender in den USA würden einen Dash Karottenbrand in die dort beliebte Bloody Mary geben. Das werde ich demnächst ausprobieren. Das Karottenaroma bleibt pur verkostet unglaublich lange im Mund und hört gefühlt nie auf. Auch hier merkt man den Unterschied zu Geisten: Obwohl die Flasche schon lange geöffnet ist, ist das Aroma immer noch auf den Punkt. Ganz anders als bei manchen Geisten, die viel Geschmack eingebüßt haben, nachdem sie mit Sauerstoff in Kontakt kamen, wie unser großer Haselnuss-Vergleichstest zeigte.
Nun landet Himbeerbrand* im Glas. 35 Kilo Himbeeren werden für 1 Liter Schnaps benötigt. Man riecht die Himbeere, aber auch etwas Moosiges und die Blätter. Dieser Schnaps riecht nicht nur süß, sondern besitzt alle Facetten der Frucht und der Gärung. Im Geschmack spürt man eine deutliche Fruchtsüße. Auch hier: 42 Volumenprozent und man merkt beinahe nichts.
Der planmäßig letzte Brand des Tages ist die Vogelbeere. Hans’ Liebling. Für die Produktion benötigt er 35 Kilogramm Vogelbeeren je Liter. Die Beeren werden schockgefrostet und elektronisch gereinigt, Laser entfernen den kleinen Stiel, der sich an jeder Beere befindet. Würde man diesen dran lassen, wäre der Brand bitter. Wir kosten den Brand – und sind überrascht: Schon im Glas strömt einen der Geruch von Marzipan entgegen, im Mund schmeckt man Bittermandel, etwas Rauch und ganz hinten ein wenig Erdiges. Normalerweise ist Vogelbeere eher erdig, hier ist der Gaumen betörend marzipanig. Es ist die zweite Flasche, die ich mir am Ende des Tages zulege.
Nach der Vogelbeere kommt etwas, das man nicht planen kann. Ein Magic Moment: Der Kirschbrand*, dessen Duft die Halle durchweht hatte, ist fertig und bereit, verkostet zu werden. Wir bekommen eine Kostprobe mit 84 Volumenprozent. Und selbst in dieser Stärke ist der Brand problemlos trinkbar. Nichts sticht in der Nase, wir schmecken ausschließlich reines Kirscharoma. So etwas haben wir noch nicht erlebt. Auch bei Hans gehen die Mundwinkel nach oben: “Yes, yes, yes. Ich wusste schon, als ich die Kirschen gekauft habe: Wenn wir da keinen Fehler machen, können wir uns drauf freuen.” Wir wurden ungeplant Zeuge der Geburt eines Jahrgangs. Der Kirschbrand muss nun noch für einige Monate, womöglich Jahre ruhen, dann wird er abgefüllt. Ich kann allen, die diesen Text lesen, nur raten: Behaltet die Kirsche 2021 im Auge. Es lohnt sich.
Den Abschluss bildet das neueste Produkt aus dem Hause Reisetbauer: der Blue Gin Organic,* entspannt als Feierabenddrink gemixt als Gin Tonic. Im Wesentlichen entspricht der Bio-zertifizierte Neuzugang dem originalen, vor 15 Jahren gelaunchten Dry Gin, welcher in der Kupferbrennblase auf Grundlage eines Weizenalkohols und 27 Botanicals (unter anderem Kurkuma, Koriandersamen, Zitronenzesten und Angelikawurz). Zudem erfolgt eine Anreicherung mit einem Bio-Apfelbrand. “Die ist das Beste. Wir haben eigens einen Apfel gebrannt, der noch nicht reif war.” Er bringt eine angenehme Fruchtigkeit in den Gin, der ohne Süßung mit einem Alkoholgehalt von 43 Prozent abgefüllt wird.
Hans Reisetbauer, der Mensch
Das war ein spannender Tag mit vielen Eindrücken. Zu wissen, wie aufwendig die Produkte entstehen, steigert noch einmal die Wertschätzung, die man ihnen entgegen bringt. Es ist das eine, zu lesen, wie viele Kilogramm Himbeeren pro Liter verwendet werden. Das andere, die Prozesse dahinter mit eigenen Sinnen zu erleben.
Und vor allem: die Menschen dahinter kennenzulernen. Selten zuvor erlebte ich einen Menschen wie Hans, der so tief überzeugt ist von dem, was und vor allem wie er es tut – und zugleich so bodenständig und selbstkritisch geblieben ist. Der sich aufmerksam für uns interessiert und trotzdem für jeden seiner Mitarbeiter und Mitarbeiterinnen stets ein offenes Ohr hat.
Vermutlich ist das echte Interesse für sein Gegenüber auch einer der Gründe, warum Hans bis heute mit vielen Weggefährten treu zusammenarbeitet. Ihn interessiert es nicht, ob das Kilogramm Karotten ein paar Cent mehr kostet, solange die Qualität makellos ist. Was nicht bedeutet, dass er kein Geld verdienen möchte. Doch es geht ihm, so schätze ich ihn ein, nicht um den schnellen Reichtum. Sondern um Ehrlichkeit. “Ich habe mein gesamtes Leben immer mehr investiert, als eigentlich möglich war”, sagte er mir im Gespräch. Die ersten 12 Jahre habe er keinen Gewinn gemacht. 12 Jahre! Ans Aufhören habe er trotzdem nie auch nur eine Sekunde gedacht, sagt er. “Ich wusste immer: Das gebe ich nie auf, irgendetwas fällt mir schon ein. Das ist mein Lebenstraum. Den ganzen Tag Brennen, ich könnte mir gar nichts anderes mehr vorstellen.”
Etwas anderes muss er sich auch nicht mehr vorstellen. Hans hat es, das kann man so salopp sagen, geschafft. Seine Brände sind gefragt wie nie, an Arbeit mangelt es ihm nicht. Jetzt hat er sogar noch eine eigene Sojasauce auf den Markt gebracht! Als ob zwei Dutzend Brände, Gins, Wodkas und ein Rum nicht reichen würden. Doch Stillstand scheint ihm ein Graus zu sein. Auch nach 27 Jahren möchte er lieber gestalten als verwalten. Demnächst soll in Axberg wieder umgebaut werden, das nächste Großprojekt steht bereits in den Startlöchern. Alleine muss Hans das nicht stemmen: Neben seinem Sohn Hansi – mit dem er noch 10 bis 15 Jahre weiter zusammenarbeiten möchte – bildet er die nachfolgende Generation bereits schon aus. All sein Wissen gibt er weiter.
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Schlagwörter: Axberg, Brand, Brennerei, Hans Reisetbauer, Obstbrand, Obstler, Rote Williams, Williamsbirne Last modified: 19. Februar 2022