Wenn es einen Cocktail gibt, der als Wiege des modernen Martini gilt, dann ist es zweifellos der Martinez. Zwischen süßem Wermut, Old Tom Gin und der schillernden Vergangenheit viktorianischer Barkultur entfaltet sich hier eine vielschichtige Komposition – ein aromatisches Zeugnis jener Epoche. Der Martinez ist kein einfacher Drink, sondern ein Schlüssel zur Entschlüsselung ganzer Geschmacksepochen, die von Süße, Bitternoten und Kräuterwürze getragen wurden. Seine Geschichte reicht bis ins Herz des 19. Jahrhunderts – und reicht mit seinen Abkömmlingen und modernen Neuinterpretationen bis tief in die heutige Mixologie.
Unser Rezept
Zutaten:
- 60 ml roter Wermut
- 30 ml Gin oder Genever
- 1 BL Maraschino
- 2 Dash Aromatic Bitters
Alle Zutaten ins Rührglas geben und auf Eiswürfeln kaltrühren. Ins vorgekühlte Glas abseihen. Mit Orangen- oder Zitronenzeste parfümieren.
Die historische Rezeptur: Eine Frage des Ursprungs
Die genaue Herkunft des Martinez liegt, wie bei vielen Klassikern der Barkultur, im Nebel des 19. Jahrhunderts. Zwei rivalisierende Ursprungslegenden stehen sich gegenüber: Einerseits Jerry Thomas, der berühmte Bartender des Occidental Hotel in San Francisco, der 1862 einen Gast namens Julio Richelieu mit einem Drink „nach Martinez“ bedient haben soll. Andererseits der gleichnamige Ort Martinez in Kalifornien selbst, wo der Drink angeblich zuerst gemixt wurde – von einem unbekannten Barkeeper.
Die erste schriftliche Erwähnung findet sich in O.H. Byron’s The Modern Bartender (1884) sowie in Harry Johnsons Bartender’s Manual (1888), das den Martinez bereits als eigenständigen Cocktail führt. Auch Jerry Thomas selbst erwähnt ihn in seiner erweiterten Ausgabe von 1887 – mit einer Rezeptur, die heute als klassisch gilt:
Martinez Cocktail (nach Jerry Thomas, 1887):
- 1 dash Boker’s Bitters
- 2 dashes Maraschino
- 1/2 wineglass (1 pony) Old Tom Gin
- 1 wineglass Sweet Vermouth
- Garnish: Lemon twist
Diese Rezeptur reflektiert die damalige Vorliebe für süße, aromatische Komplexität – im Gegensatz zur trockenen Eleganz des späteren Dry Martini. Old Tom Gin – süß, wacholderbetont, mit einer weichen Würze – war der dominierende Gin-Stil der Zeit. Der italienische süße Wermut (vermutlich Carpano) brachte Bitternoten, Kräuter und Vanille ins Spiel. Das Maraschino rundete mit Kirschlikör und Mandelanklängen ab.
Vom Martinez zum Martini
In der Entwicklung vom Martinez zum Martini manifestiert sich ein Paradigmenwechsel in der Barkultur. Aus dem süßen, vielschichtigen Aperitif mit italienischem Wermut wurde ein klarer, trockener Drink mit französischem Dry Vermouth. Der Gin wurde trockener, die Süße verschwand, das Maraschino fiel weg. Zwischen 1890 und 1910 änderte sich die Form radikal.
Dry Martini (um 1910)
- 60 ml London Dry Gin
- 30 ml Dry Vermouth
- 1 Dash Orange Bitters
- Garnitur: Olive or Lemon twist
Der Weg dahin war fließend. In den 1890ern war es durchaus üblich, sowohl süßen als auch trockenen Wermut in einem Drink zu kombinieren. Der „Marguerite Cocktail“ (1904, Stuart’s Fancy Drinks) mit Plymouth Gin, Dry Vermouth und Orange Bitters könnte als Übergangsform gelten.
Der Martinez gilt damit als Vater nicht nur des Martini, sondern als archetypischer „Wermut-und-Gin“-Cocktail – Urform ganzer Kategorien. Noch mehr Rezepte und eine noch deutlich tiefergehende Recherche zum Martinez findet ihr auf bar-vademecum.de.
Moderne Interpretationen und stilistische Varianten
In der zeitgenössischen Barkultur erfährt der Martinez eine bemerkenswerte Renaissance. Durch das Wiederaufleben von Old Tom Gin (Hayman’s, Ransom, Tanqueray) und die wachsende Vielfalt an Vermouths ist der Weg frei für eine kreative Neudeutung.
Jim Meehan (PDT, New York): Klassisch-reduziert
- 45 ml Old Tom Gin (Hayman’s)
- 45 ml oz Sweet Vermouth (Carpano Antica)
- 1 BL Luxardo Maraschino
- 2 Dashes Boker’s Bitters
Meehan hält sich eng an die klassische Struktur, doch durch hochwertige Produkte wirkt sein Martinez klarer, fokussierter – mit runden Kirschnoten und weichem Wacholder.
Joaquín Simó (Pouring Ribbons): Aromatische Tiefe
- 60 ml Ransom Old Tom Gin (fassgereift)
- 30 ml Punt e Mes
- 7,5 ml Luxardo Maraschino
- 2 Dashes Jerry Thomas Own Decanter Bitters
- Orange twist
Simós Version hebt die Bitternoten und dunkle Fruchtigkeit hervor – ideal für Liebhaber komplexer Wermutstrukturen. Punt e Mes bringt zusätzliche Tiefe und leichte Rauchnoten.
Agostino Perrone (Connaught Bar, London): Mediterrane Noblesse
- 45 ml Mediterranean Gin (Mare)
- 45 ml Rosso Vermouth (Cocchi di Torino)
- 7,5 ml Maraschino
- 1 Dash Orange Flower Water
- Garnitur: Lemon zest expressed over the drink
Perrone bringt florale und kräutrige Akzente ein, mit subtiler Note von Orangenblüten – eine Interpretation mit südlicher Eleganz.
Monica Berg (Tayer+Elementary, London): Minimalistische Neustrukturierung
- 45 ml fermentierte Pflaume Gin
- 45 ml roter Vermouth Blend
- 1 BL Mirin Reduktion
- 1 Dash Umami Bitters
Eine dekonstruktive Neuinterpretation, in der der Martinez zur Spielwiese für Texturen, Fermentation und asiatische Aromen wird – eine Transformation in die moderne Cocktailwelt.
Fazit
Der Martinez ist kein bloßer Vorläufer des Martini. Er ist dessen Ursprung – und gleichzeitig ein eigenständiges Manifest einer anderen Zeit. Wer ihn trinkt, trinkt eine Geschichte. Eine Geschichte, die mit süßem Wermut und Old Tom Gin begann und bis heute nicht auserzählt ist. Vielleicht ist es genau das, was ihn unsterblich macht: Dass er immer wieder neu erfunden werden kann, ohne je seine Seele zu verlieren.
Cheers!
Schlagwörter: Cocktail, Martinéz, Rezept Last modified: 15. Mai 2025