Die Deutsche Bahn hatte sich mal wieder von ihrer typischen Seite gezeigt: Während mein Bruder Hendrik gemütlich aus Halle anreiste, spielte ich in Hamburg Bahnhofs-Bingo. Erster Zug: gecancelt. Zweiter Zug: Verspätung. Gegen 15 Uhr trudelte ich schließlich in Stuttgart ein, wo Hendrik bereits vor dem Hotel wartete – mit diesem typischen Bruder-Grinsen, das sagt: “Na, auch mal da?”
Nach dem schnellen Check-in gönnten wir uns erstmal eine ordentliche Grundlage. Doch statt vernünftig früh ins Bett zu gehen, zogen wir los zu einer ausgedehnten Bar-Tour durch Stuttgarts Nachtleben. Mehrere Stunden und etliche Drinks später wussten wir: Das hat zwar viel Spaß gemacht, war aber für den nächsten Tag eher suboptimal.
Samstag, 11 Uhr: Die Mission beginnt
Leicht verkatert, aber voller Vorfreude machten wir uns auf den Weg nach Untertürkheim. Das ABZ Stuttgart – eine ehemalige Ausbildungsstätte mit Blick auf die Weinberge – empfing uns mit dem verführerischen Duft von geöffneten Armagnac-Flaschen.
Schon beim Einlass wird klar: Das Baby ist gewachsen. Von 220 Gästen im ersten Jahr über 300 im letzten auf geschätzte 400 heute. Die Schlange vor der Registrierung ist lang, aber die Stimmung gut. Wir entdecken ein paar bekannte Gesichter.
Der erste Schluck
Mit fünf Gratis-Token bewaffnet (im 15-Euro-Ticket inbegriffen) stürzten wir uns ins Getümmel. Und die Frage: Was gießt man sich zuerst ins Glas? Einerseits eine schwierige Frage angesichts von über 30 Ausstellern mit 250 offenen Flaschen. Zum anderen hing der Vorabend noch wie ein diffuser Schatten über uns, es war also ratsam, eher smooth in den Tag zu starten.
Die Wahl fiel auf einen Chateau Garreau 1965. Man kann definitiv schlechter in den Tag starten. Im Anschluss ging es zu einem Tasting von Sascha Junkert und Nicolas Kröger. Hier stellte jeder drei derzeitige Lieblinge vor, drei davon waren Abfüllungen aus dem Jahr 1986. Auch hier zeigte sich wieder: Wenn wir uns auf eine Domaine festlegen müssten, es wäre wohl Seailles. Definitiv ein interessanter Vergleich.
Zwischen Produzenten und Geschichten
Was das Festival so besonders macht, ist die familiäre Atmosphäre. Hier stehen keine gelangweilten Promoter hinter den Ständen, sondern meistens die Produzenten oder Inhaber – viele davon mit nur wenigen Fässern Jahresproduktion. Man plaudert auf Deutsch, Englisch, Französisch, wie es gerade passt. Es ist diese Nahbarkeit, die das Festival so besonders macht.
Bei Grape of the Art, den Gastgebern, fachsimpelten wir über die neue Abfüllung, bei Lheraud probierten wir uns durch die Range und entdeckten den Pineau Francois 1er Tres Rare 50ans, den wir richtig klasse fanden.
Die Mischung aus produzierenden Domaines (u.a. Danis, Charron) und unabhängigen Bottlern (L’Encantada, Swell de Spirits) bot für jeden Geschmack etwas – von spritzigen 4-Jährigen bis zu ehrwürdigen 1960ern.
Klassentreffen der Spirituosen-Szene
Gegen Mittag wird’s eng auf den Gängen. Wir treffen einige Leser dieses Blogs, Bekannte aus der Branche und lernen neue Leute kennen. Man zieht von Stand zu Stand, probiert mal dieses, dann jenes. Der Underdog-Status von Armagnac ist hier Programm. Man feiert die Nische, pflegt den direkten Austausch, hält die Preise fair (wo sonst zahlt man 1-3 Euro pro Zentiliter für 30 Jahre alte Spirituosen?).
Die Rum-Szene trifft sich am Nachmittag am Stand von Dirk Becker vom Rum-Depot. Hier probieren wir den Guyana 1990, außerdem hat er ein paar neue Abfüllungen von HSE und Baie des Tresors im Gepäck. Wir trinken Calvados von Wolfgang Klotz und von Robert Bauers Sins-Reihe, Armagnac von 1811 und Rendsburg Caronis.
Am Nachmittag folgt eine weitere Masterclass – L’Encantada zeigt seine mobile Destillation. Die kurzen Vorträge sind gut besucht, aber nicht überlaufen. Man lernt, diskutiert, probiert.
Ein Tag für eine Spirituose
Gegen 19 Uhr geht es ins Bix, wo traditionell die Aftershow-Party stattfindet. Dort warten ein Rückbuffet voller Klassiker, ein Schnitzel und Spargel auf dem Tresen. Danach geht es noch auf einen letzten Absacken ins Weiße Ross, eine kleine neue Bar in der Nähe. Dazu später mehr hier in diesem Blog. Nur nicht zu lange, am Sonntag stehen wieder 7 Stunden ICE-Fahrt an.
Für mich war es schön zu sehen, wie aus Sascha Junkerts Ein-Mann-Stand auf dem German Rum Festival ein Event mit internationalem Ruf geworden ist. Es wächst, und wenn es so weiter geht, bleibt Stuttgart nicht mehr lange das bestgehütete Geheimnis der deutschen Spirituosenszene. Ein Samstag im Mai, an dem sich alles um eine Spirituose dreht, die die meisten nicht mal aussprechen können. Herrlich verrückt. Herrlich gut.
Die Lehren des Tages:
- Mit dem Bruder zu Spirituosen-Festivals fahren: großartig
- Am Vorabend ausgedehnte Bar-Touren machen: weniger schlau
- 250 Armagnacs an einem Tag verkosten wollen: unmöglich
- Produzenten erzählen die besten Geschichten: Zeit nehmen fürs Zuhören
- Masterclasses bei Kater: überraschend erkenntnisreich
Das 4. German Armagnac Festival findet am 9. Mai 2026 statt. Tickets und Infos demnächst unter germanarmagnacfestival.de